Die normative Macht des Faktischen
Vor einigen Wochen hat Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, eine klare Positionierung der Bundesregierung und der EU gefordert. Wenn Corina vorbei sei, müsse die EU eine grundsätzliche Entscheidung zum Rollenverständnis einer Partnerschaft treffen: Amerika oder China! Ob Döpfner diesen Beitrag im hauseigenen Blatt „Welt am Sonntag“ – sechs Wochen später – nochmals so schreiben würde, darf heute bezweifelt werden, denn die Vereinigten Staaten befinden sich nach dem Tod des dunkelhäutigen Amerikaners George Floyd nicht nur in der Wahrnehmung in Deutschland in einer Zerreißprobe. Das Land hat ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen eine denkbar schlechte Reputation in Deutschland. Donald Trump, Corona und die derzeitigen Unruhen sind die Begleitmusik: Die Vereinigten Staaten agieren mit verschärfenden Sanktionen gegen China, das laut Donald Trump den Preis für Corona zahlen müsse. Aber auch Deutschland wird nicht verschont! Die Deutschen, so die Amerikaner (übrigens nicht nur Trumps Republikaner, sondern auch die Demokraten), würden sich nicht klar gegen Chinas Hightech-Unternehmen Huawei beim Aufbau des 5G-Mobilfunknetzes positionieren und auch beim Bau der neuen russischen Gasleitung Nord Stream 2 falle Deutschland den Vereinigten Staaten in den Rücken. Das Klima zwischen Deutschland und den USA ist denkbar frostig geworden. Ganz offen stellen die Amerikaner inzwischen ihr Bündnis-Engagement in Deutschland in Frage.
Aus deutscher Medien-Sicht und Teilen der Politik ist der Sündenbock (insbesondere nach dem am 25. Mai 2020 erfolgten Verbrechen an George Floyd in Minneapolis) Präsident Donald Trump. Mit einem Wort: Döpfners oben erwähnte Alternative, die Vereinigten Staaten, sind in Deutschland derzeit nicht populär. Doch so einfach dürfen es sich auch deutsche Medien nicht machen. Die Vereinigten Staaten, im Vergleich zu China geradezu babyhaft jung, feiern in wenigen Jahren ihr 250jähriges Jubiläum. In dieser jungen Geschichte hat das Land so ziemlich alle denkbaren innenpolitischen Auseinandersetzungen und Gefährdungen des Zusammenhaltes durchlebt. Vom Sezessionskrieg (Nord- gegen Südstaaten) von 1861 – 1865 bis zum erneut drohenden Bürgerkrieg in den 1960er Jahren. Die aktuellen Polarisierungen in den Vereinigten Staaten haben mit Präsident Trump nichts zu tun. Auch unter dem in Deutschland so herbeigesehnten Ex-Präsidenten Barack Obama gab es am 9. August 2014 die Erschießung des farbigen Schülers Michael Brown in Ferugson in Missouri mit den folgenden Unruhen, die sogar zu Ausgangssperren mit dem Einsatz der Nationalgarde führten. Daran muss leider erinnert werden. Am 4.4.1968 wurde die Symbolfigur der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther King (I have a dream), in Memphis ermordet. Damaliger Präsident war übrigens der Demokrat Lyndon B. Johnson. Einige Jahre vorher schon, 1957, begannen langanhaltende Rassenunruhen in Little Rock (Hauptstadt des Bundesstaates Arkansas), die derartig eskalierten, dass der populäre Präsident Dwight David Eisenhower sogar die Armee in Marsch setzte. Wie man sieht, alles schon – leider – dagewesen, gleichgültig, ob Republikaner oder Demokraten den Präsidenten stellten.
Verschiedene Maßstäbe
Doch unabhängig von den innenpolitischen Szenarien in den Vereinigten Staaten, ist die von Döpfner vorgeschlagene Alternative USA oder China für die EU und die Deutschen unrealistisch. Gerade nach Corona braucht die Welt keine Polarisierung, sondern Zusammenarbeit. Konkret Deutschland und seine Wirtschaft die Partnerschaft mit seinem Handelspartner China! Ein China-Bashing (siehe Corona und das China-Bashing) ist daher nicht zielführend und nicht im Interesse der deutschen Wirtschaft. In einem Essay in der „Süddeutschen Zeitung“ (14. Juni 2020) unter dem Titel „Selbstbewusst auf der Seidenstraße“ erkennt der Autor zwar die Rolle Chinas als größter Handelspartner Deutschlands an, kommt aber zu dem Ergebnis, dass das Land kein normaler Partner sei, weil es z.B. europäische Interessen im Rahmen des Projektes „Die neue Seidenstrasse“ in Griechenland, Italien oder Spanien mit Investitionen unterlaufe. Doch gerade das Beispiel Griechenland – es geht um die chinesische Großinvestition im Hafen Piräus – ist für Angriffe gegenüber China denkbar ungeeignet. Es war schließlich die EU, die Griechenland nach der Finanzkrise im Regen stehen ließ. Erst mit dem später erfolgten Engagement der chinesischen Investoren entstanden in Piräus wieder Arbeitsplätze und eine wirtschaftliche Wertschöpfung. Auch müssen immer wieder „Menschenrechte“, die mit Füßen getreten würden, für Angriffe gegen China herhalten. Dies sieht aber China so nicht und vor allem sieht es die Bevölkerung Chinas in ihrer großen Mehrheit völlig anders. China hat in den letzten 40 Jahren hunderte Millionen Menschen aus der Armut geführt, wie der entstandene starke Mittelstand als Käufer deutscher Fahrzeuge so eindrucksvoll unterstreicht. Diese Leistung erkennen die Chinesen an.
Auch darf daran erinnert werden, dass viele China-Kritiker mit verschiedenen Maßstäben messen, wenn nur als Beispiel einige Golfstaaten erwähnt werden dürfen. Für wichtige EU-Staaten ist Saudi Arabien sogar ein höchst willkommener und bedeutender Käufer europäischer Militärtechnik. In Europa selbst führte die Gelbwestenbewegung in Frankreich über Monate hinweg zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen mit Tausenden Verletzten. Niemand ist – zurecht natürlich – auf den Gedanken gekommen, Frankreich als Partner abzulehnen. Wer ist ein normaler Partner – um auf das erwähnte SZ-Essay zu China zurück zukommen? Deutschland kann nicht seine Wertvorstellungen auf die gesamte Welt übertragen. Und natürlich auch die EU nicht. Soll Deutschland zum Partner Vereinigte Staaten die Zusammenarbeit in Frage stellen, weil die US-Regierung in unsere Energiepolitik (Druck wegen Nord Stream II) eingreift? Die Amerikaner haben jetzt den Druck auf Deutschland erhöht, um Nord Stream II zu verhindern. Jetzt wollen die USA sogar Rückversicherungsgesellschaften und andere Dienstleister aus aller Welt sanktionieren, wenn diese Nord Stream II, ein 9,5 Milliarden Euro-Projekt, versichern. Deutschland kann sich als eine führende Exportnation seine Partner nicht nach Belieben „backen“. Wollen wir etwa Polen „bestrafen“, nur weil das Land souverän über seine Justiz bestimmen will? Ein anderes Beispiel: 2014 hat Russland, nachdem die Ukraine Mitglied der NATO werden sollte, die Krim nach einer Volksbefragung in die Russische Föderation aufgenommen. Seither unterliegt Russland westlichen Sanktionen. Waren diese zielführend, ist Russland von der Bildfläche verschwunden? Natürlich nicht.
Die größte wirtschaftliche Herausforderung auch für Deutschland ist jetzt durch das Corona-Virus entstanden. Die Wirtschaft liegt am Boden. Im wahrsten Sinne des Wortes beispielsweise die Luftfahrt. Der Automobilindustrie, zusammen mit den Zulieferfirmen die wichtigste Branche Deutschlands und Arbeitgeber für über 850.000 Menschen, brechen die Zulassungszahlen weg. Der Hoffnungsträger E-Autos hat trotz Förderprogramme noch lange keinen zufriedenstellenden Markt. 2019 wurden in den fünf wichtigsten PKW-Produktionsländern (China, Vereinigte Staaten, Europa, Japan, Indien) 61,1 Millionen PKW hergestellt. Lediglich 2,3 Millionen PKW waren Hybride bzw. E-Autos. Rechnet man die Hybride, die ja zusätzlich einen Verbrennungsmotor haben, heraus, kann man die eigentlich reinen E-Autos, gemessen an den Zulassungszahlen, schlicht vergessen. Fast diskret setzt jetzt die Bundesregierung – wie übrigens auch die Japaner – auf die Wasserstofftechnologie für die Mobilität sowie auf die Entwicklung „grüner“ Treibstoffe. Die Politik hat insgeheim erkannt, dass am Verbrennungsmotor noch lange nicht vorbeigegangen werden kann, wenn ein wirtschaftlicher Supergau mit einem Heer von Arbeitslosen verhindert werden soll.
Hoffnung China
China hat ca. 1,4 Milliarden Einwohner. Dies sind 18% der weltweiten Konsumenten! Ja, China ist kein normaler Partner – er ist schlichtweg von seinem Verbrauchermarkt zu wichtig, nicht nur für die deutsche Automobilindustrie; China ist der am schnellsten wachsende Chemiemarkt. Zwar wird auch China durch Corona stark in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gebremst, aber im Mai 2020 haben die Chinesen schon wieder den Vorjahreszeitraum bei der Anzahl der Fahrzeugkäufe überschritten. Es ist daher verständlich, dass die deutschen Autobauer auch mit gewaltigen Investitionen weiter auf den Standort China setzen. Wo wollen sie sonst noch wachsen, wenn etwa die USA den Import aus der EU drastisch erschweren?
In vielen Medien wird plakativ vom Ausverkauf der deutschen Wirtschaft an China berichtet und mit den Fällen Kuka oder KaussMaffei untermalt. Doch ein Analyse zeigt, dass die Befürchtungen unbegründet sind. Nach einer EY-Studie sanken im vergangenen Jahr (2019) wertmäßig die chinesischen Unternehmensübernahmen bzw. Beteiligungen in Deutschland sogar ganz erheblich von 10,6 Mrd. US-Dollar auf 4,6 Mrd. US-Dollar. Die größten ausländischen Investoren sind in Deutschland nach wie vor die angelsächsischen Länder Vereinigte Staaten und Vereinigtes Königreich. Deshalb sind protektionistische Überlegungen aus EU-Kreisen gegen China sehr reserviert zu sehen. Manfred Weber, Fraktionschef der EVP (Europäische Volkspartei), hat sich für ein zwölfmonatiges Verkaufsmoratorium, mit dem der Verkauf an chinesische Investoren verhindert werden soll, ausgesprochen. Doch ein derartiger Vorschlag, der bereits in der Wirtschaft auf Ablehnung gestoßen ist, könnte zu einer erheblichen Verstimmung führen. Ohnehin sind Ängste voreinander unbegründet, denn die Handelspartner Deutschland und China brauchen nach Corona noch stärker eine enge wechselseitige Zusammenarbeit im Sinne einer Win-Win-Situation.