Jahrzehntelang war es nämlich so, dass die Spitzenkandidaten der beiden Gruppierungen EVP (bei der die christlich-demokratischen konservativen Parteien auf EU-Ebene vereinigt sind) und S & D, die „Group of the Progressive Alliance of Socialists & Democrats in the European Parliament“, in den sogenannten Kamingesprächen die großen Leitplanken, und wer was wird, festlegten. Dies war offensichtlich auch diesmal wieder zwischen dem bayerischen CSU-Vertreter Manfred Weber (Fraktionsvorsitzender der EVP) und dem Niederländer Frans Timmermanns, Fraktionschef der europäischen „Sozis“, so geplant und zwar nach dem Motto „Du bekommst jenen, wenn ich diesen Posten bekomme“.
Doch die EU-Wahlergebnisse 2019 mit künftig zu suchenden Mehrheiten, werden vermutlich den früher geübten Mechanismus durchkreuzen. Jetzt könnte eine Liberale, nämlich die Dänin Margrethe Vestager, neue EU-Kommissionspräsidentin werden – nach den zwei ausgesprochen schwachen Amtsinhabern José Manuel Barroso und Jean-Claude Juncker wäre diese Personalie sogar eine gute Lösung. Weber jedenfalls, dies hat die Vergangenheit mit zweifelhaften Aussagen bewiesen, wäre in der Funktion Kommissionspräsident als ehemaliger hochgedienter Provinzpolitiker ohne Regierungspraxis überfordert.
Gemauschel wird schwieriger
Die Europäer haben zurecht bei der Wahl für neue Verhältnisse gesorgt. Die jetzt in der EU-Wahl gewonnenen Mandate reichen der EVP (sie erhält vermutlich 180 Sitze) und der S & C, mit wahrscheinlich 145 Abgeordneten, für eine heimliche Große Koalition nicht mehr. Insgesamt sind im EU-Parlament, eine übrigens teure Wanderveranstaltung zwischen Brüssel und Straßburg, 751 Abgeordnete vertreten. Sozialisten und EVP kommen aber zusammen nur auf 325 Mandatsträger. Neue Mehrheiten zu finden wird aufgrund des Abstrafens der „klassischen“ Parteien durch die europäischen Wähler daher künftig schwierig werden. Für Manfred Weber, der zu voreilig einen Besitzanspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten anmeldete, könnte es bei seinen Ambitionen eng werden, zumal auch der französische Präsident Emmanuel Macron den CSU-Mann Weber nicht mittragen will. Macrons Partei La République en Marche (LREM) wurde jetzt bei der EU-Wahl vom Rassemblement National seiner Gegenspielerin Marine Le Pen geschlagen. Frankreichs Präsident, innenpolitisch durch die Gelbwesten geschwächt, will jetzt in Brüssel Stärke demonstrieren, zumal ihm Marine Le Pen bereits im EU-Wahlkampf vorwarf, sich gegen die deutsche Kanzlerin nicht durchsetzen zu können.
Brexit-Partei des Nigel Farage siegt in UK
Auch die in verschiedenen deutschen Medien fast schon ständig herbei geschriebenen und im Fernsehen gesendeten Untergangsszenarien des Vereinigten Königreichs nach dem Brexit, haben die britischen Wähler wohl nicht überzeugt, wie das EU-Wahlergebnis zeigt. Die Vereinigten Staaten sehen ohnehin bei einem britischen EU-Austritt eher Vorteile, zum Beispiel im so wichtigen Handel zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich. Die im Fernsehen gezeigten Großdemonstrationen in London waren wohl doch nur eine Minderheit gegen den Brexit und spiegelten jetzt beim Wahlergebnis keineswegs die Meinung der Briten wider. Im Gegenteil, die neugegründete Brexit Party des Nigel Farage erhielt mit deutlichem Abstand die meisten Stimmen. Die Brexit-Gegner hätten jetzt immerhin über die EU-freundliche „Liberal Democrats“ ein eindrucksvolles Zeichen für den Verbleib der Briten in der EU setzen können. Sie kam aber nur auf bescheidene 18,5%, während Nigel Farage das EU-Lager in Großbritannien geradezu deklassierte. Woran mag dies wohl gelegen haben?
Desaster in Deutschland für Union und SPD
In Deutschland bestätigte sich jetzt bei der EU-Wahl erneut der Niedergang der ehemaligen großen Volksparteien, die inzwischen selbst zusammen keine absolute Mehrheit haben. CDU und CSU erreichten lediglich bescheidene 28,9% und selbst dieses Ergebnis retuschiert die, für die CDU allein, kümmerlichen und katastrophalen 22,6%. Dies ist ein Minus von 7,5% gegenüber der EU-Wahl 2014. Die relativ stabile CSU gestaltete mit ihren 6,3% das Gesamtergebnis der Union etwas freundlicher. Wie die CDU-Vorsitzende Annegret Kram-Karrenbauer das erneute Desaster ihrer Partei als Erfolg darstellen konnte, bleibt wohl ihr persönliches Geheimnis. Bei einer derartigen Analyse ihrer Vorsitzenden darf sich die CDU nicht wundern, wenn sie immer weiter an Zustimmung im bürgerlichen Lager verliert.
Noch schlimmer sieht es bei den Sozialdemokraten aus. Die SPD – und dies ist ein Drama für die Demokratie – ist fast schon bedeutungslos und sackte erneut zweistellig auf kümmerliche 15,5% ein. Die einst so stolze deutsche Sozialdemokratie ist bundesweit nach den Grünen nur noch an dritter Stelle und hat eigentlich den Anspruch einer Volkspartei verloren. In einem so traditionsreichen Land wie Sachsen, das die deutsche Arbeiterbewegung ganz wesentlich prägte, dümpelte jetzt die SPD mit 8,6% nach den Parteien AfD, CDU, Linke und Grüne auf den fünften Platz! Und selbst in früheren SPD-Hochburgen deutscher Großstädte, Beispiele Nürnberg oder Mannheim, marschiert die Partei in die Richtung der politischen Katastrophe.
Über den Niedergang der verdienstvollen SPD, die einmal so erfolgreiche Bundeskanzler wie Willy Brandt, Helmut Schmidt und ganz bewusst auch Gerhard Schröder stellte, und unter Brandt sogar mit über 45% die stärkste Bundestagsfraktion wurde, kann sich eigentlich niemand freuen! Auch das konservative Unionslager und übrigens auch die Unternehmen und Wirtschaftsverbände nicht. Denn eigentlich wird eine geläuterte SPD noch dringend gebraucht. Der Niedergang der SPD hat viele Gründe. Sie hat ihre Kernklientel der hochqualifizierten Fachkräfte in der Industrie und im Handwerk vernachlässigt – auch die Beamtenschaft beim Bund, in den Ländern und vor allem in den Kommunalverwaltungen. Die noch in den 70er Jahren der SPD zugeneigten Lehrer und Intellektuellen wandern weiter in Scharen zu den Grünen. Diese haben jedoch außer dem Verbreiten einer Angstkultur mit Weltuntergangsszenarien im Klimabereich nichts anzubieten. Die SPD hingegen ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt; einmal links, dann wieder Mitte und zurück, rannte und rennt sie dem jeweiligen Zeitgeist einer ideologisch-intellektuellen Richtung hinterher und merkt nicht, dass dieses Feld von den Grünen besetzt wurde. Sie läuft Strömungen hinterher, von denen sie sich Wählerstimmen verspricht. Die schier unendlichen Richtungsdiskussionen, besonders angestoßen, nachdem Oscar Lafontaine 2005 die SPD verließ, haben die deutsche Sozialdemokratie weitgehend orientierungslos gemacht.
SPD hat Stammwähler sträflich vernachlässigt
Anstelle Industriebranchen wie z.B. die Energiewirtschaft (die direkt und indirekt etwa in der Generatoren- und Großturbinenproduktion zahlreiche SPD-Wähler beschäftigte) zusammen mit den Gewerkschaften zu retten, fiel die Partei den Beschäftigten in den Energiekonzernen inkl. Stadtwerke, den vorgelagerten Unternehmen für Energietechnik und schließlich in den energieintensiven Betrieben der Stahl-, Aluminium- oder Zementindustrie in den Rücken. Und zwar durch das Mittragen einer völlig verfehlten ideologisch getriebenen Energiepolitik, die den Deutschen auch in den Privathaushaltungen inzwischen die weltweit höchsten Energiepreise beschert hat und den Unternehmen zusehends infolge der hohen Energiekosten die Konkurrenzfähigkeit nimmt. Was hat eigentlich die Energiewende in Deutschland den Menschen, außer den grün angehauchten Ideologen, die sich mit der Energiewende eine „goldene Nase" verdienen, wirklich gebracht? Eine Verbesserung des Klimas?
Da würden sogar die Hühner lachen, wenn man nur an die Emissionen der größten asiatischen Länder denkt und andererseits das Potential Deutschlands mit gerade einmal einem Einfluss von ca. 2% auf das Klima berücksichtigt. Eine wirkliche Klimapolitik – abseits der Ideologie – sieht anders aus: Diese geht Emissionen mit technischen Mitteln an. Beispiele gefällig? Es war die SPD, die schon vor Jahrzehnten mit politischen Rahmenbedingungen und Vorgaben für Entschwefelungsanlagen, Filter, Katalysatoren für einen blauen Himmel im Ruhrgebiet, eine Forderung von Willy Brandt, sorgte. Und zwar ohne die damaligen Strukturen der Energiewirtschaft im Energieland NRW zu beschädigen. So sieht Politik aus! Leider ist die SPD dann später, den Grünen zuliebe, vor den populistischen Parolen der ja nur vermeintlichen „Klimaretter“ eingeknickt und hat die einst von ihr geförderte Kernenergie geoutet. Die SPD wollte nicht merken, dass durch die ideologische und fundamentalistische Standort- und Industriepolitik der Grünen deutsche Industriearbeitsplätze gefährdet wurden – frühere SPD-Wähler haben aber dies sehr wohl bemerkt; sie haben registriert, dass sich die SPD leider sogar den Grünen anbiederte. Wo ist der Lohn für die SPD? Jetzt reicht es für eine SPD-geführte Bundesregierung mit den Grünen nicht mehr und selbst wenn es sich rechnen würde, dann nur als Juniorpartner … Für die SPD gilt: Die ich rief die Geister, wird‘ ich nun nicht los!
Kurz vor der EU-Wahl waren absurde Forderungen in Richtung einer „Vergesellschaftung großer Unternehmen“ wie BMW zu vernehmen. Nur ganz leise hat die SPD-Führung widersprochen. Zwar war es „nur“ ein romantisch veranlagter klassenkämpferischer SPD-Jungspund, aber dessen Blödsinn beherrschten fortan die Schlagzeilen. Wenn dann Betriebsratschefs sagten, dass man die SPD nicht mehr wählen könne, ja dann ist eigentlich der Grund des Niederganges der SPD mehr wie deutlich geworden. Strukturell hat die SPD vor allem ihre früheren Wähler an die Grünen verloren, weil SPD-Stammwähler von ihrer Partei enttäuscht wurden. Dass die Grünen freilich die Interessen der Arbeiterschaft erst recht vernachlässigen, werden die Wähler bald in Industriestandorten wie Stuttgart, Mannheim oder in Hannover merken. Man ist fassungslos, dass in einer Stadt wie Stuttgart (Daimler, Bosch, Porsche, Mahle), die von der Autoindustrie lebt, eine technik- und autofeindliche Partei wie die Grünen, deren Credo oft das Verbot ist, einen Stimmenanteil von 28,4% jetzt bei der EU-Wahl erreichten.
Grüner Höhenflug ist vergänglich
Doch bei aller derzeitigen Euphorie der deutschen Grünen, ist ihr Ergebnis im EU-weiten Maßstab doch sehr bescheiden. Vielleicht ist man im Ausland etwas schlauer. Mit gerade einmal 9,2% und 69 Abgeordneten sind die Grünen nur die zweitkleinste Fraktion im EU-Parlament. Selbst die Liberalen (ALDE & Renaissance) sind in der EU mit 109 Mandaten deutlich vor den Grünen positioniert. Dies relativiert! Die rechten und europakritischen Parteien (ENF mit Rassemblement National, Lega Nord und FPÖ), EFDD (Brexit Party UK, AfD, 5-Sterne in Italien) und EKR (polnische PIS) erhielten zusammen 171 Stimmen – fast so viele wie die Parteien der EVP.
In einigen einwohnerstarken Ländern wie Polen konnten die Grünen kein einziges Mandat erringen. Und in Deutschland? Selbst in den westlichen Bundesländern Deutschlands wachsen die temporären Ergebnisse der Grünen oder die Bäume nicht in den Himmel. Über- und Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall . Was machen die Grünen, wenn die wüsten Klimaprophezeiungen, die sie so gerne postulieren, durch die Realität entlarvt werden? Die Stunde der Wahrheit wird kommen. Immerhin: 80% oder Vierfünftel haben jetzt bei der EU-Wahl auch in Deutschland die Grünen eben nicht gewählt; im Osten Deutschlands sind sie bedeutungslos. Es gibt neben dem Klima auch in Deutschland noch andere wichtige Fragen. Zum Beispiel neben sozialen und sicherheitspolitischen Themen, wie jetzt das Wahlergebnis zeigte, die anhaltende erneute Spaltung unseres Landes. Dafür sind die Ostdeutschen bei der friedlichen Revolution 1989 nicht auf die Straßen.
Was zeigen die EU-Wahlen für die konventionellen Parteien Deutschlands? Die Unionsparteien und die Sozialdemokratie müssen wieder ihr früheres klares und abgegrenztes Profil finden. Dann müssen sie keine Konkurrenz fürchten. Man muss sich auch einmal in der Opposition erholen können. Franz Müntefering, der große alte Mann der Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen hat einmal gesagt, „Opposition ist Mist“. Dies mag im Grundsatz stimmen, aber ein Bedeutungsverlust ist ein noch größerer Mist. Dennoch: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Die SPD muss wieder attraktiv werden.