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Hat Deutschland wirklich 1,5 Millionen Einwohner weniger als angenommen?

Hat Deutschland wirklich 1,5 Millionen Einwohner weniger als angenommen? © Pixabay

Theoretischer Humbug

Die Überraschung war groß, als das Statistische Bundesamt die Ergebnisse der Volksbefragung Zensus 2011 am 31. Mai 2013 veröffentlichte. Deutschland habe 1,5 Millionen weniger Einwohner als bisher angenommen. Grundlage der neuen Erkenntnis ist die Befragung vom 9. Mai 2011. Demnach hat Deutschland angeblich nur noch 80,2 Millionen Einwohner. Keine Frage, die „Öffentlichen Hände“ brauchen richtige und vor allem aktuelle Zahlen. Insofern sind verlässliche Aussagen zur Bevölkerungsstruktur, beispielsweise für Bedarfsermittlungen der Daseinsvorsorge, wichtig. Aber kann man sich auf die jetzt veröffentlichten Zahlen verlassen? Zweifel sind angebracht.

Ginge es nur um das Prestige, etwa ob eine Stadt noch Halbmillionenstadt ist (wie Nürnberg) oder dem erlauchten Club der 3,5 Millionen einwohnerstarken Städte – wie bisher Berlin – angehört, könnte man getrost zu wichtigeren Fragen übergehen. Aber es geht eben nicht nur um das Prestige, sondern um viel Geld. Denn die Ergebnisse des Zensus 2011 haben Auswirkungen auf die Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich und die Zuweisungen für die Städte werden an deren Einwohneranzahl bemessen. So bekäme Berlin, sollten die Zensus-Zahlen endgültig sein, ca. 470 Millionen Euro weniger aus dem Länderfinanzausgleich, weil die Stadt „nur“ 3,3 Millionen Einwohner hat und nicht, wie bisher geglaubt, 3,5 Millionen. Insofern ist die Aufregung in der Bundeshauptstadt verständlich.

Der Berliner Senat prüft, „ob es Ansatzpunkte für einen Einspruch“ gegen die Zensus-Ergebnisse gibt. Ähnlich kritisch sieht Nürnberg als Zentrum der Metropolregion Nürnberg die Zählergebnisse. Die Stadt Mannheim, die als Zentrum und Sitz die Metropolregion Rhein-Neckar anführt und in ihrer direkten Agglomeration 970.000 Einwohner umfasst (die gesamte dortige Metropolregion hat sogar 2,3 Millionen Einwohner), erwägt gar eine Klage gegen das Ergebnis des Zensus. Tatsächlich sind die durch das Statistische Bundesamt veröffentlichten Zensus-Ergebnisse schon vom zeitlichen Ablauf der Erhebung bis zur Veröffentlichung für die Festlegung von Finanzzuweisungen völlig ungeeignet – auch, weil sie längst überholt sind. Die jüngst bekanntgewordenen Zahlen basieren auf einer Befragung vom 9. Mai 2011 und sind somit schon wieder über zwei Jahre alt! Kritisch für den Aussagewert wird auch gesehen, dass lediglich 10% der Bevölkerung durch 80.000 Interviewer befragt wurden; insgesamt wurde nur ein Drittel der Bevölkerung erfasst – mit allen damit verbundenen Unsicherheiten.

Qualität der Erhebung fraglich

Auch deshalb hat Mannheims Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz bereits die Qualität und Aussagekraft bezweifelt. Die Zensusergebnisse lägen weit jenseits dessen, „was erklärlich und vorstellbar“ sei. Der Oberbürgermeister weiter: „Das Verfahren der Zensuserhebung ist intransparent!“ Da die Abweichungen der Zensus-Zahlen zum Melderegister der Stadt Mannheim erheblich seien und man andererseits ein sehr gutes gepflegtes Melderegister habe, müsse man die Qualität der Erhebung in Frage stellen. Es sei nicht wahrscheinlich, „dass wir rund 12.000 fehlerhafte Meldungen in unserem Register haben“, sagte unisono Mannheims zuständige Dezernatsleiterin Felicitas Kubala.

Starke Kritik kommt auch aus der Halbmillionenstadt Nürnberg. Wolf Schäfer, zuständiger Leiter des Statistikamtes der Schwesterstädte Nürnberg und Fürth: „Wir gehen davon aus, dass die Zahlen so nicht stimmen.“ Vor allem kritisiert der erfahrene Statistiker das „untransparente Rechenverfahren“. Für ihre internen Planungen jedenfalls verlässt sich die Stadt Nürnberg weiterhin auf ihre eigenen Zahlen. Die Kernstadt Nürnberg soll laut Zensus knapp unter die Einwohnerzahl 500.000 gerutscht sein. Nach zwei Jahren, Nürnberg gehört zu den wachsenden Städten, hat die Stadt wieder deutlich zugelegt. Ohnehin hat die Stadt aber eine andere Struktur: Nürnberg zählt mit der Straße an Straße direkt (für Ortsunkundige nicht erkennbar) zusammengewachsenen Stadt Fürth sogar 616.000 Einwohner. Im Grunde, wie Mannheim/Ludwigshafen, Ulm/Neu-Ulm und Berlin/Potsdam, eine Stadt.

Bereits wieder überholte Zahlen, Kritik am Erhebungsverfahren – das übrigens 710 Millionen Euro gekostet hat –, zu wenig aussagekräftige Erhebungen, Kritik von erfahrenen Fachleuten: Was ist vom Ergebnis Zensus zu halten? Wenig! Die Zensus-Zahlen sind aufgrund der bereits wieder „alten“ Erhebungen in der Tat schlicht und ergreifend ein theoretischer Humbug. Man fragt sich auch, weshalb eine Auswertung einer Befragung, durchgeführt am 9. Mai 2011, über zwei Jahr bis zur Veröffentlichung dauert.

Nochmals – solange es nur um das Prestige ginge, könnte man die Ergebnisse naserümpfend zur Seite legen. Ob Berlin, Hamburg, Nürnberg oder Mannheim je nach Stadt 20.000 oder 180.000 weniger Einwohner hat, ist etwa unter dem Aspekt der Wirtschaftskraft in Hamburg, Nürnberg oder Mannheim – die drei genannten Städte sind absolute Schwergewichte der Wirtschaftskraft – sekundär. Es geht um falsche Zuweisungen und deshalb wehren sich die betroffenen Städte zurecht, denn sie erbringen auch Leistungen für ihr unmittelbares Umfeld.

Neue Modelle sind gefragt

Benachteiligt sind beim Zuweisungsverfahren aufgrund der Einwohnerzahlen Städte mit einer länderübergreifenden Struktur, obwohl sie ein zusammenhängendes Stadtbild haben. Beispiele sind Berlin und Potsdam (Berlin und Brandenburg), Ulm und Neu-Ulm (Baden-Württemberg und Bayern) lediglich durch die Donau getrennt sowie Mannheim und Ludwigshafen (Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz), deren Innenstädte sogar am Rhein direkt gegenüber liegen. Auch Hamburg würde benachteiligt, denn die Hansestadt erbringt für die an der Stadtgrenze liegenden Städte wie beispielsweise Ahrensburg (Schleswig-Holstein) Leistungen der Infrastruktur und ein enormes Kultur-, Ausbildungs- und Gesundheitsangebot.

Es sind neue Modelle gefragt und zwar für die Erhebung, als auch für das Umlageverfahren der Finanzzuweisungen für die Städte. Es kann nicht angehen, dass ein zivilisierter führender Staat wie Deutschland nicht weiß, wie viele Menschen sich innerhalb seiner Grenzen befinden. Da spielen auch Sicherheitsfragen eine ganz wichtige Rolle. Es kann nicht sein, dass sich etwa legal angemeldete Ausländer beim Verlassen unseres Landes nicht abmelden müssen. Und schließlich brauchen wir in Regionen mit länderübergreifenden Strukturen andere Rechenmodell für die Zuweisungen. Im Dreiländereck um Mannheim mit Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen gibt es natürlich eine S-Bahn. Aber die muss doch auch länderübergreifend funktionieren. Der kommunale öffentliche Personennahverkehr hört doch nicht mitten auf einer Rheinbrücke zwischen Mannheim und Ludwigshafen auf. Das alles gilt auch für Ulm und Neu-Ulm – dies ist ein Wirtschaftszentrum, unabhängig davon, dass zufällig die Donau die Ländergrenze zwischen Baden-Württemberg und Bayern darstellt.

Die möglichen Klagen von einstweilen Berlin, Mannheim und Nürnberg sind nicht von der Hand zu weisen. Aufgrund eines überholten Humbugs, Zensus genannt, der leider dazu noch viel Geld kostete, kann nämlich nicht geplant werden. Zahlen, Basis 2011, sind heute Makulatur – weil Vergangenheit.

 

Letzte Änderung am Mittwoch, 03 Mai 2017 14:33
Günter Spahn

 Herausgeber und Chefredakteur Zielgruppen-Medien Verlag