Doch die Evonik Industries AG ist strukturell kein „normales“ Unternehmen. Haupteigner ist die RAG-Stiftung. Deren laut Satzung wichtigste Aufgabe ist, Vermögen für die Finanzierung der Folgekosten des Steinkohlebergbaus aufzubauen. Dazu dienen die Evonik-Erträge entsprechend der Beteiligungsquote der RAG-Stiftung von derzeit 74,99% bei Evonik. Je besser Evonik arbeitet, desto mehr Dividende erhält also die Stiftung. Dies setzt voraus, dass die Beteiligungsquote dann aber auch hoch bleibt. „Einmalerlöse“ kann aber andererseits die RAG-Stiftung durch den Verkauf von Evonik-Anteilen oder deren Platzierung über einen Börsengang erzielen. Allerdings sieht bei einem Verkauf oder Börsengang die Satzung der RAG-Stiftung vor, zumindest eine Sperrminorität bei Evonik zu halten. Die Evonik Industries AG ist aber auch deshalb kein übliches Unternehmen, weil der Haupteigner RAG-Stiftung der Aufsicht durch den Staat unterliegt. Diese Funktion nimmt das nordrhein-westfälische Innenministerium wahr.
Die oberste Kontrolle beim Evonik-Mehrheitseigner RAG-Stiftung liegt bei einem Kuratorium, in dem u.a. die Ministerpräsidenten(innen) der Länder Nordrhein-Westfalen und Saarland sowie die Bundesminister für Finanzen und Wirtschaft (derzeit Schäuble und Rösler) vertreten sind. Schließlich gehört dem Kuratorium der Vorsitzende der Gewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie an. Insgesamt hat das Kuratorium derzeit 13 Mitglieder. Durch das Modell der RAG-Stiftung ergibt sich eine Abstimmungsnotwendigkeit mit der Politik.
Was heißt dies für Börsenpläne bei Evonik? Ganz einfach – es sind viele Richtungen und Meinungen auch außerhalb der Wirtschaft zu berücksichtigen. Wo aber viele „Köche“ werkeln, wird es schwierig. Dies ist in „normalen“ Unternehmen beim Börsengang einfacher: Eigner, Familieninhaber oder Gesellschafter aus der Privatwirtschaft stimmen mit der Firmenleitung das Procedere ab. Dann wird der Börsengang durchgezogen. Beteiligt sind lediglich noch beratende Institute. Beim Beispiel des vorgesehenen Evonik-Börsenganges genügt es nicht, wenn Aufsichtsrat und Vorstand der Evonik AG den Stiftungsvorstand des Haupteigners RAG-Stiftung überzeugen. Denn dieser muss – wie ausgeführt – verschiedene Vorstellungen der Politik berücksichtigen. Dies macht bei Evonik den Gang zur Börse intern kompliziert. Wie man sieht, scheint es auch beim dritten Anlauf Irritationen zu geben. Etwa zur Frage, wie viel Prozent überhaupt abgegeben werden sollen.
Der Spagat dabei: Der Stiftungsvorstand soll möglichst hohe Börsenerlöse anstreben, denn er braucht für die „Ewigkeitslasten“ Steinkohlebergbau viel Geld. Die Politik in NRW will aus strukturpolitischen Gründen bei Evonik langfristig denkende loyale Kernaktionäre. Sie steht daher (zumindest Teile der Politik) weiteren „Finanzinvestoren“ reserviert gegenüber. Aufgrund von Entwicklungen in einigen anderen Firmen nachvollziehbar. Je besser die „Botschaften“ und Bilanzergebnisse von Evonik sind, desto stärker stellt die Politik die Frage, ob überhaupt ein Börsengang notwendig sei, wenn gute Evonik-Erträge die Aufgaben der RAG-Stiftung sicherstellen.
Jetzt sorgen auch externe Begleitumstände beim Evonik-Börsengang für Irritationen. Denn inzwischen gibt es mehrere begleitende Banken: Deutsche Bank, Goldman Sachs und neu soll nun die Investmentbank Rothschild Vorstellungen entwickeln. Es darf an die alte Weisheit erinnert werden: mehrere Gutachten, mehrere Meinungen! Auch der zweite Evonik-Eigner, CVC Capital Partners (25,01%), wirft Fragen auf. Der Finanzdienstleister will seinen Anteil abbauen und somit kräftige Erlöse erzielen. Eigentlich sollte es umgekehrt sein. Die Gesellschaft müsste angesichts der guten Evonik-Position sogar weitere Anteile aufbauen. Da aber CVC wie die RAG-Stiftung (im Verhältnis 2:1) abgeben will, ist die Politik zumindest über CVC verwundert. CVC Partners lässt für seinen bisherigen Anteil an Evonik den Börsengang über eine externe Agentur kommunizieren, die auch im PR-Bereich tätig ist. Die beratenden Banken, so heißt es im Umfeld der Kapitalmärkte, wollen eine möglichst hohe Prozentquote von Evonik-Aktien an die Börse bringen. Nordrhein-Westfalen hingegen will auch künftig seinen Einfluss bei Evonik sichern. Vermutlich deshalb räumt inzwischen die RAG-Stiftung ein, dass auch eine relativ kleine Quote an die Börse kommen könne – oder eben überhaupt nicht. Die RAG-Stiftung begründet dies mit den Entwicklungen an den Finanzmärkten infolge der Ereignisse in Griechenland.
Wie auch immer: Viele Beteiligte, viele Meinungen! Drei Banken, Kommunikation bei Evonik, RAG-Stiftung und CVC Partners – selten war ein Börsengang so kompliziert. Sollte, wie auch zu hören ist, der Börsengang abgeblasen und später ein vierter Anlauf geplant sein, wäre dies ein Super-GAU. Irgendwann und irgendwie glaubt dann niemand mehr an einen Börsengang der Evonik Industries AG. Es wäre in der Tat ein Drama, denn das Unternehmen Evonik ist Weltklasse. Aber vielleicht gerade deshalb soll nach Ansicht der Politik dieser Schatz nicht verscherbelt werden …