Immerhin hieß es noch im am 3. Februar 1947 formulierten Ahlener Programm der CDU (mit starken Ansätzen für eine staatlich beeinflusste Wirtschaft), dass „das kapitalistische Wirtschaftssystem in den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht worden“ sei. Zentrale Bereiche der Wirtschaft sollten daher „vergesellschaftet“ werden. Zwar hatte das kapitalistische Wirtschaftssystem früherer Zeiten – das zwischen 1933 und 1945 parteiideologisch durch die NSDAP beeinflusst wurde – nicht mehr die Züge des „Manchesterkapitalismus“, aber die Schöpfer des Ahlener Programms der CDU fühlten sich auch der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik verpflichtet. Der Manchesterkapitalismus war keineswegs nur für England prägend. Auch im Königreich Preußen war beispielsweise lange die soziale Lage unbefriedigend. So wurde etwa erst 1839 die Arbeit von Kindern unter neun Jahren in Preußen per Gesetz verboten. Und selbst später gab es noch Kinderarbeit, allerdings durften ab 1853 Kinder erst ab zwölf Jahren beschäftigt werden.
Unternehmertum mit einer sozialen Komponente
Das Ahlener Programm der CDU hat sich, zum Glück für die junge Bundesrepublik Deutschland, nicht durchsetzen können. Man wollte vielmehr in Abstimmung mit den westlichen Siegermächten in den Westzonen marktwirtschaftliches unternehmerisches Engagement; aber mit einer Betonung der sozialen Komponente. Es ist übrigens nicht zutreffend, dass der spätere Vater des Wirtschaftswunders, der unvergessene Ludwig Erhard, die Soziale Marktwirtschaft erfand. Diesen Begriff prägte erstmals Erhards späterer langjähriger wirtschaftspolitischer Weggefährde, der Ökonom Alfred Müller-Armack in seinem 1946 erschienenen Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“. Die theoretischen volkswirtschaftlichen Grundlagen basieren sogar auf der ganz wesentlich durch den Nationalökonomen Walter Eucken geprägten „Freiburger Schule“ (1927 trat Eucken an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eine volkswirtschaftliche Professur an) mit einer Wirtschaftsordnung des Ordoliberalismus, d.h. der Verknüpfung eines freien Marktes mit einem Ordnungsrahmen. Und dennoch wurde Ludwig Erhard, schon durch seine Funktion als Wirtschaftsminister, zum „Spiritus Rector“ der Sozialen Marktwirtschaft. Er setzte sie als Grundlage der Wirtschaft schließlich erfolgreich in der Praxis um und erklärte sie in seinem berühmten Buch „Wohlstand für alle“ auch einer breiteren Öffentlichkeit. Der Siegeszug der Sozialen Marktwirtschaft war nicht mehr aufzuhalten.
Kernelement für Ludwig Erhard war die These, dass „das erfolgversprechende Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden Wohlstandes der Wettbewerb“ sei. Aber – und dies ist ganz wichtig – er wollte eine Soziale Marktwirtschaft mit der Verbindung von unternehmerischer Freiheit und Verantwortung. Erhard war sich bewusst, dass die „Soziale Marktwirtschaft“ nicht missbraucht werden dürfe durch einen Wildwuchs; er war sich bewusst, dass ein Ordnungsrahmen notwendig sei. Die Entwicklung ist bekannt. Deutschland entwickelte sich auch durch sein Wirtschaftsmodell relativ schnell zu einer führenden Wirtschaftsnation auf den Grundlagen Freiheit, Selbstverantwortung, Freizügigkeit, Wettbewerb. Freilich mit Rahmenbedingungen, die einen sorglosen Umgang mit Rohstoffen und Gütern ausschließen. Die Soziale Marktwirtschaft, richtig praktiziert, ist auch eine Balance zwischen gesellschaftlichen Gruppen.
Aufweichen der Sozialen Marktwirtschaft
Trotz der Übereinstimmung innerhalb der großen politischen Parteien zugunsten der Sozialen Marktwirtschaft – die SPD übernahm bereits 1959 zentrale Elemente in ihr Godesberger Programm – sind in den letzten Jahren leider Versuche erkennbar, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft aufzuweichen. Befeuert wurden und werden diese Tendenzen insbesondere durch die internationale Staats- und Bankenschuldenkrise in den Jahren 2007/2008. So wurden in den angelsächsischen Ländern zahlreiche „Finanzprodukte“ einem wilden Markt überlassen, ohne Verantwortung mit Blick für die Gesamtsituation zu praktizieren. Soziale Marktwirtschaft heißt aber nicht, Verantwortung und Daseinsfürsorge für die Menschen zu vernachlässigen. Auch darf sich der Staat, bewusst auch in der Sozialen Marktwirtschaft, nicht in einem Privatisierungswahn aus seiner Verantwortung für Schlüsselaufgaben stehlen. Darunter sind Aufgaben der Sicherheit, in vielen Facetten auch in der Infrastruktur und im Bereich der Mobilität zu verstehen.
Es gibt ohnehin gesellschafts- und wirtschaftspolitische Aufgaben, die strukturell nicht „gewinnfähig“ sind. Infolgedessen können oder sollten sie auch in einer Sozialen Marktwirtschaft nicht privatisiert werden. Dazu gehört auch die Kultur. Ein Opernhaus wirft nun einmal keine Gewinne ab – es sei denn, wir verwandeln Sängerinnen und Sänger in ihrer Kostümtracht auf der Bühne in wandelnde Werbeträger. Etwa Anna Netrebko als Donna Anna in der Oper Don Giovanni mit einem Werbekostüm mit aufgedruckter Werbung für ein Pharmaunternehmen. Auch Krankenkliniken haben in erster Linie der Behandlung der Patienten zu dienen und weniger einem Gewinnstreben. Dies sind nun einmal Aufgaben, die bezuschusst werden müssen. Die Bahn, ein anderes Beispiel, die eine Grundverantwortung für eine jederzeit gesicherte Mobilität hat, hatte vor ihrer Umwandlung in eine AG in Deutschland beamtenrechtliche Strukturen. Streiks durch eine kleine Zielgruppen-Gewerkschaft, wie wir sie derzeit gehäuft erleben, waren daher schon deshalb nicht möglich, weil die Bahnbediensteten beamtenrechtliche Dienststellungen hatten und somit nicht streiken konnten.
Die Versorgung der Bürger mit Mobilitätsdienstleistungen durch die Bahn war vor der Bahnprivatisierung keine Hängepartie für die Bahnreisenden etwa an Feiertagen oder in Ferienzeiten. Die Bürger würden eine Soziale Marktwirtschaft nicht mehr mittragen, wenn gewisse große Infrastrukturvorhaben und wichtige Hoheitsaufgaben rein privat betrieben würden und der Staat sich von der Verpflichtung einer Grundversorgung der Daseinsfürsorge verabschieden würde. Und dies wäre schade, weil es zur Sozialen Marktwirtschaft keine funktionierende Alternative gibt. Es ist also eine Balance gefragt – nicht alles kann oder sollte (übrigens im Interesse der Sozialen Marktwirtschaft) privatisiert werden. Vor Jahren wurde British Rail privatisiert mit dem Ergebnis, dass die neuen Investoren die Infrastruktur verkommen ließen. Man könnte unzählige andere Beispiele aufzählen, in denen Infrastrukturen nach ihrer Privatisierung vernachlässigt wurden. Solche Dinge sind ein Missbrauch des guten Modells der Sozialen Marktwirtschaft. Ansonsten würde in der Öffentlichkeit die Frage gestellt, für was der Staat noch Steuern benötigt, wenn er sich von der Grundversorgung für die Bürger verabschiedet.
Eingriffe in das Eigentumsrecht
Die Soziale Marktwirtschaft wird andererseits seit längerer Zeit bewusst oder unbewusst auch vom Staat unterwandert – unabhängig von den Forderungen linker und ideologischer Gruppen. Dies gilt etwa für die wichtige Energiewirtschaft, die immer öfters mit dirigistischen Vorgaben konfrontiert wird. Die Energiepolitik verzerrt den Wettbewerb. Auch durch viele Eingriffe in das Eigentumsrecht – Stichwort Frauenquote in den Aufsichtsräten – werden die Prinzipien einer freien und Sozialen Marktwirtschaft mit Füßen getreten. Schließlich ist auch die immer wieder diskutierte Begrenzung der Managergehälter eigentlich Sache der Eigentümer der Unternehmen, wenngleich viele Vergütungen in ihrer überzogenen Höhe von der Ethik nicht mehr vertretbar sind. Aber dies müssen die Eigner mit ihrem Gewissen verantworten. Auch durch die fehlende Harmonisierung in der EU wird die Soziale Marktwirtschaft teilweise ausgehöhlt. Gerade das, was die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland immer auszeichnete, der Wettbewerb, wird in den einzelnen Mitgliedsländern unterschiedlich interpretiert. Hinzu kommen unzählige Vorschriften und Verordnungen der EU auch in relativ untergeordneten Fragen, die teilweise einen grotesken Charakter haben. Allein mit jährlich gut 1000 Verordnungen der EU wird die Wirtschaft konfrontiert. Dabei sind Alltagsdinge wie Glühbirnen, Duschköpfe, WC-Spülungen und Wattanzahl der Staubsauger noch harmlos. So schnell – wie Brüsseler Eurokraten im Erfindungswahn neuer Vorschriften sind – können sich die Unternehmen in der Alltagsproduktion überhaupt nicht umstellen. Dies sind alles Dinge, unabhängig von wichtigen Ordnungsfragen in der Finanzwirtschaft, die konträr zur Sozialen Marktwirtschaft verlaufen.
Die Soziale Marktwirtschaft – richtig umgesetzt – hat sich insgesamt in Deutschland hervorragend bewährt. Sie hat sich allen anderen Formen der Wirtschaftsgestaltung als weit überlegen erwiesen. Dies wurde insbesondere im Vergleich zur staatlich gelenkten Planwirtschaft deutlich erkennbar. Überall dort, wo die Planwirtschaft realisiert wurde, sank der Lebensstandard. Überall dort, wo die Soziale Marktwirtschaft richtig umgesetzt wurde, prosperiert die Wirtschaft. Dies hat selbst China erkannt. Zwar hat dort die Kommunistische Partei immer noch das Gestaltungsmonopol. Aber die Partei hat erkannt, dass das Riesenreich nur prosperieren kann, wenn die Prinzipien des Marktes für die Wirtschaft Vorrang haben. Seit die Chinesen die Planwirtschaft mit der Marktwirtschaft kombinierten, ging es dort aufwärts. Soziale Marktwirtschaft bleibt auch für künftige Generationen ein Erfolgsmodell, wenn die Wirtschaft das Prinzip „Eigentum verpflichtet“ Im Sinne von mehr Ethik praktiziert.