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Nachdenken und die richtigen Erkenntnisse ziehen:

Nachdenken und die richtigen Erkenntnisse ziehen: Verlagsgruppe Random House GmbH

Der 28. Juni 1914 – die Bewertung durch Historiker der Gegenwart

Es gibt Gedenktage, die wir am liebsten in unserem Bewusstsein streichen würden, weil sie mit Katastrophen der Weltgeschichte verbunden sind. So auch der 28. Juni 1914, der als Auslöser des I. Weltkrieges gilt.

Eine Tragödie, die nicht nur zig Millionen Tote und Verwundete verursachte, sondern eine neue Zeitrechnung einleitete, die zu einem weiteren Weltkrieg mit einer bisher noch nie bekanntgewordenen Polarisierung von Völkern und ihren Menschen führte. Verdrängungen sind immer schlechte Verhaltensmuster und deshalb ist es gut, dass viele Historiker in Neuerscheinungen das Geschehen am 28. Juni 1914 und ihre Vorgeschichte analysieren. Doch werden aktuell die richtigen Lehren und Erkenntnisse gezogen? Zweifel sind angebracht, wenn man nur die derzeitige Ukraine-Krise analysiert. Statt einer vielbeschworenen Deeskalation sind Heißsporne der Politik damit beschäftigt, Öl in das Feuer zu gießen und gar einen dritten Weltkrieg zu beschwören. Wer immer nur von Strafen und Sanktionen spricht, erreicht nichts. Auch die Doppelmonarchie wollte 1914 Serbien „bestrafen“ und zog dabei das Deutsche Kaiserreich mit in den Urknall. Wer aber mit Sanktionen bestrafen will und dabei Türen zuschlägt, muss diese irgendwann auch wieder öffnen.

Historiker streiten um die richtige Sicht

Einig sind sich die führenden Historiker lediglich in der Einordnung des Attentates vom 28. Juni 1914 auf den Thronfolger der Habsburger Doppelmonarchie, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau. Der Mordanschlag in Sarajewo erfolgte durch Nationalisten, die sich mit der durch die Habsburger erfolgten Annexion von Bosnien und Herzegowina im Jahr 1908 an Österreich-Ungarn nie anfreunden konnten. Für den bereits 2005 verstorbenen ehemaligen amerikanischen Diplomaten und Historiker George. F. Kennan war das Attentat der Beginn der „Urkatastrophe“, durch die es keine Machtübernahme durch die Bolschewiki, keine Etablierung der NSDAP und vermutlich auch keinen II. Weltkrieg – jedenfalls damals nicht – gegeben hätte. Der Juni 1914 wurde zum Schicksalsmonat!

Wenn heute immer wieder die Schuldfrage aufgeworfen wird, dann ist dies eigentlich für die zu ziehenden Lehren nur von sekundärer Bedeutung. In einem Interview, abgedruckt in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 23. Januar 2014, wies Karl Habsburg-Lothringen, Enkel des letzten Kaisers der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, darauf hin, dass die Schüsse von Sarajewo den I. Weltkrieg ausgelöst haben, aber „wenn es nicht die Schüsse von Sarajewo gewesen wären, wäre es damals drei Wochen später anderswo losgegangen“. Zu aufgeheizt war die Stimmung bei den damaligen Großmächten. Die Ursache, die Schüsse von Sarajewo, muss scharf von der Schuldfrage getrennt werden.

Für den verstorbenen Historiker Fritz Fischer war in seinem 1961 erschienen Buch „Griff nach der Weltmacht“ die Schuldfrage geklärt. Das Deutsche Kaiserreich wollte, so Fischer, die Vorherrschaft in Europa und anschließend die Weltherrschaft. Mithin sei Deutschland für den I. Weltkrieg verantwortlich.

Fischers Buch führte zu einer erheblichen Diskussion. Erst in jüngster Zeit hat vor allem Christopher Clark, Historiker und Professor für neuere europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge (United Kingdom), in seinem stark beachteten und fast 900 Seiten umfangreichen Buch „Die Schlafwandler“ nachgewiesen, dass eigentlich alle beteiligten damaligen europäischen Großmächte (England, das Deutsche Kaiserreich, Russland, Frankreich und vor allem die Habsburger Doppelmonarchie) in den Monaten Juni und Juli des Jahres 1914 versagt haben. Man unterlag Fehleinschätzungen in der politischen und militärischen Bewertung und „stolperte“ regelrecht in den Krieg. Die Doppelmonarchie, so Karl Habsburg-Lothringen, war militärisch überhaupt nicht für einen Weltkrieg gerüstet („Wir hatten sehr schöne Uniformen, aber eben wenig mehr“). Allerdings hat Clark in seinem Buch unterschwellig zu einseitig den Serben die Aggressorrolle zugewiesen. Den Serbien war aber sehr wohl bewusst, dass sie allein viel zu schwach waren, um sich etwa gegen die Doppelmonarchie in einem lokal begrenzten Krieg zu behaupten.

Auch für Clark’s Kollegen Herfried Münker, Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin und Verfasser des lesenswerten Buches „Der große Krieg“, haben die damaligen politischen Eliten, auf allen Seiten, keine Fähigkeiten der Krisenbewältigung gezeigt.

Die Blankoschecks

Es sei das Pech der Deutschen gewesen, dass sie sich in den Krieg verwickeln haben lassen. Schließlich hat Jörn Leonhard ein umfangreiches Buch unter dem Titel „Die Büchse der Pandora“ geschrieben. Er ist der dritte namhafte Historiker, der allen beteiligten Mächten die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges zuschiebt. Allerdings hebt er die besondere Verantwortung Deutschlands hervor und begründet dies mit dem berühmt-berüchtigten Blankoscheck, den Deutschland der Doppelmonarchie ausstellte.

Doch hier muss man Leonhard heftig widersprechen. Kaiser Wilhelm II. hat in einem Brief vom 28. Juli 1914 an das Auswärtige Amt in Berlin darauf hingewiesen, das nach der Antwort Serbiens auf das Ultimatum der Doppelmonarchie „jeder Grund zum Kriege“ entfalle. Man möge, so der Kaiser weiter, dies den Verbündeten in Wien so sagen. Restliche Fragen zwischen Wien und Belgrad könne man auf dem Verhandlungswege noch klären. Zitat wörtlich: „Aber die Kapitulation (Serbiens) demütigster Art liegt darin orbi et urbi verkündet, und durch sie entfällt jeder Grund zum Kriege.“ Weiter bot Wilhelm an, „zu vermitteln“.

Schlussendlich kann der sogenannte Blankoscheck im Rahmen des Bündnisses zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ohnehin nicht überbewertet werden, zumal auch Frankreichs Staatspräsident Raimond Poincaré gegenüber dem Zaren Nikolaus II. bei seinem Besuch in Sankt Petersburg unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges einen Blankoscheck an der Seite Russlands ausstellte.

Selbst wenn man den Begriff Blankoscheck weit auslegt, blieb doch immerhin die letzte Verantwortung für die Kriegserklärung Österreich-Ungarns vom 28. Juli 1914 an Serbien bei der Doppelmonarchie, denn verantwortlich ist zunächst immer der Handelnde, nicht der Tolerierende (Deutsches Kaiserreich). Fakt ist auf jeden Fall, dass die Doppelmonarchie die erste Kriegserklärung aussprach und somit – wenn man überhaupt die müßige Schuldfrage aufwerfen will – der Hauptverantwortliche für den unmittelbaren Ausbruch des I. Weltkrieges ist.

Letzte Änderung am Donnerstag, 27 April 2017 13:45
Günter Spahn

 Herausgeber und Chefredakteur Zielgruppen-Medien Verlag