Was wir beim „unkontrollierten Abschied“ der Vereinigten Staaten und Deutschlands erleben, ist ein Drama für die Zivilbevölkerung und für die so leidgeprüften Afghanen, die auf verschiedenen Ebenen während des Militäreinsatzes für die Amerikaner und Deutschen tätig waren. Aber ganz konkret auch für alle Soldaten, die im Afghanistan-Krieg ihren Einsatz leisteten. Letztere fragen sich jetzt, für was sie eigentlich gekämpft haben. Der Westen hat jetzt Afghanistan ohne einen Plan B seinem Schicksal überlassen. Wo sind die „westlichen Werte“ der Humanität, die es zu verteidigen gelte, geblieben? Die deutsche Bundesregierung und ganz konkret die Bundeskanzlerin erinnert immer wieder an diese „unsere Werte“ und verweist auf die angeblichen Defizite in anderen Ländern, die nicht die höheren Weihen der Bundeskanzlerin haben. Zum Teil sind es sogar Staaten auch innerhalb der EU, wenn als Beleg dafür nur Ungarn oder Polen genannt werden darf. Wo aber sind diese Werte, die Deutschland immer so gerne hochhält und auf die sich auch die EU immer beruft, jetzt in Afghanistan erkennbar? Die NATO ist abgetaucht, vom ansonsten großsprecherischen Generalsekretär Jens Stoltenberg, der die Fahne der Werte so hochhält, nur Worthülsen wie „wir werden nicht zulassen, dass Terroristen uns aus Afghanistan bedrohen“ und schließlich ist die EU ebenfalls abgetaucht und die Bundesregierung wurde überrascht …
Die Tragödie in Afghanistan hat mehrere Dimensionen, z.B. eine politische, eine globalstrategische, eine militärische und vor allem eine menschliche. Was ist nun das Ergebnis des zwanzigjährigen Einsatzes in dem unwirtlichen Land am Hindukusch, an dem angeblich auch die deutsche Freiheit verteidigt würde? Nichts – kein Ergebnis wurde erreicht; es geht wieder vom Stand null analog 2001 los! So bleibt nur die trügerische Hoffnung, dass die heutige Taliban-Führung ihre Versprechungen gegenüber der Bevölkerung umsetzt.
Afghanistan eine unendliche Geschichte
Am 7. Oktober 2001 begannen die Amerikaner mit der Bombardierung der Taliban-Stellungen den Afghanistan-Einsatz aufgrund der brutalen Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York. Die USA sahen darin eine Kriegserklärung und vermuteten die logistische Basis für die Terroranschläge in Afghanistan. Tatsächlich pendelte bis zu seinem Tod Osama bin Laden ständig im unwegsamen Gelände zwischen Afghanistan und seinem späteren Versteck im pakistanischen Grenzgebiet hin und her. Gleichzeitig sollte durch die Intervention das Regime der Taliban beendet und Afghanistan von der Barbarei endlich befreit werden. Bereits wenige Wochen nach Beginn der Luftschläge im Herbst 2001 ist es der westlichen Allianz – inzwischen hatte das Bundeskabinett die Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan beschlossen – gelungen, die Hauptstadt Kabul einzunehmen.
Doch so richtig gelang es nie, das von der Topographie konventionell-militärisch kaum beherrschbare Land (652.000 qkm – fast die zweifache Größe Deutschlands) mit seinen extrem wilden Gebirgszügen, den riesigen Rückzugs-Höhlen rund um den Chaiber-Pass und den schwierig einehmbaren weiteren Hochgebirgs-Pässen unter Kontrolle zu bringen. Am Hindukusch biss sich dreimal das damals mächtigste Weltreich, das britische Empire, die Zähne aus; es entließ schließlich nach 60 Jahren britischer Herrschaft am 8. August 1919 Afghanistan in die Unabhängigkeit. 1988 besetzten die Sowjets Afghanistan – 1989 zogen sie wieder ab. Afghanistan ist in jeder Hinsicht auch von der Kultur und Mentalität der Menschen her eine Welt für sich.
Andererseits: Was viele nicht wissen, ist die Tatsache, dass Afghanistan beispielsweise in den 1960 Jahren unter dem damaligen langjährigen König Sahir Schah bereits westlich geprägt war; die Frauen trugen Miniröcke. Was ging bereits damals beim Sturz von Sahir Schah aus westlicher Sicht schon schief? Nur so nebenbei: Auch der Iran war übrigens unter dem Schah Mohammad Reza Pahlavi (nicht zu verwechseln mit König Sahir Schah aus Afghanistan) des modernste westlich orientierteste Land im gesamten Nahen Osten.
Frankreich hat sich rechtzeitig vor einigen Jahren verabschiedet
Für Deutschland wäre es sinnvoll gewesen, sich nach dem Tod von Osama bin Laden (2. Mai 2011 durch eine US-Spezialeinheit) nach immerhin schon 10 Jahren aus Afghanistan geordnet, geordnet wohlgemerkt, zu verabschieden. Es wäre viel Jammer erspart geblieben. Doch die deutsche Politik unter Angela Merkel hatte und hat leider, im Gegensatz zu Frankreich, kein eigenes außenpolitisches Profil. Bereits 2006 hat hingegen der damalige französische Präsident Jacques Chirac seine Spezialeinheiten am Hindukusch abgezogen. Sein Nachfolger Nicolas Sarkozy kündigte 2011 einen weiteren stufenweisen Abzug der Franzosen an und schließlich beendete Frankreich 2014 den Afghanistan-Einsatz.
Die Kanzlerin, alles nur nicht führungsstark, vertrat hingegen den Standpunkt, in Afghanistan präsent zu sein, solange auch die Amerikaner dort bleiben. Die fast schon emotionale „Treue“ der Kanzlerin insbesondere gegenüber dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama hat mit zum heutigen Chaos beigetragen. Was unter Ex-Kanzler Schröder unter anderen Voraussetzungen noch richtig war, nämlich in Afghanistan aus Solidarität reinzugehen, war spätestens nach zehn Jahren, also 2011, passé.
Afghanistan zeigt: Es ist höchste Zeit, dass Angela Merkel als Kanzlerin die politische Bühne im Herbst verlässt. Die Frau ist nach 16 Jahren verbraucht und vor allem politisch – auch von den Medien – überschätzt. Von wegen stärkste Frau der Welt! „Nie wurden wir schlechter regiert“, sagte vor kurzem das FDP-Reibeisen Wolfgang Kubicki der „Rheinischen Post“ mit Hinweis auf die katastrophale Afghanistan-Politik der Bundesregierung unter der Kanzlerin. Es hat auch keinen Sinn, den Schwarzen Peter Außenminister Heiko Maas oder den Nachrichtendiensten zuzuschieben. Gewiss, auch Maas hat total versagt, aber die Richtlinienkompetenz und oberste Verantwortung liegt und lag nun einmal bei der Kanzlerin, die ja ansonsten auch nicht müde war, sich in alle möglichen und unmöglichen Angelegenheiten mit einsamen Entschlüssen – oft falsch – einzumischen.
Die traurige und beschämende Bilanz
Die Bilanz für den Afghanistan Einsatz ist erschreckend. Tausende amerikanische, auch deutsche, Soldaten sind gefallen; unzählige Verwundete haben teilweise Arme oder Beine verloren, von den nicht mehr zählbaren und für den Rest ihres Lebens traumatisierten Soldaten ganz zu schweigen. Die materiellen Verluste, das „Verbrennen“ von Steuergeldern in Milliardenhöhe – so wahnsinnig hoch sie auch sind: alles noch zu relativieren im Vergleich zu den erwähnten Afghanistan-Kriegsopfern. Alles wäre noch einigermaßen selbst heute erklärbar, wenn es einen geordneten Rückzug, einen Plan B mit einer einigermaßen gesicherten Zukunft für Afghanistan gegeben hätte. Gab und gibt es aber nicht! Zeit war ja nach dem Abschluss des Doha-Abkommens (Vertrag der Vereinigten Staaten mit den Taliban in der Hauptstadt des Emirats Katar im Februar 2020) genug vorhanden …
Auch haben sowohl die Amerikaner als auch die Deutschen den Stellenwert der afghanischen Armee mit 350.000 Soldaten völlig falsch eingeschätzt. Aber auch hier: Die afghanischen Truppen hat man im Regen stehen lassen. In der Endphase der letzten Wochen, als die Taliban auf dem Vormarsch waren, fehlte die Luftunterstützung durch die USA und deren Verbündeten. Die „Neue Zürcher Zeitung“ brachte es so treffend auf den Punkt, nämlich „dass die Amerikaner und ihre Verbündeten Millionen von Afghanen, die nicht unter islamistischer Herrschaft leben wollen, einfach im Stich lassen.“ Dies sei, so das Blatt weiter, „eine Schande und ein globales Desaster.“
Große Teile der afghanischen Bevölkerung (viele sympathisieren in Afghanistan allerdings aber auch mit den Taliban) werden, dies gilt insbesondere für Frauen, wieder unterdrückt werden. Es wird, da muss man kein Prophet sein, einen erneuten Flüchtlingsstrom aus Afghanistan geben und im schlimmsten Fall wird der Terrorismus am Hindukusch neu aufleben. Der gesamte Nahe Osten könnte weiter destabilisiert werden. Alles wie vor 2001 gehabt? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Die USA haben in der Welt viel Vertrauen verspielt.
Jetzt zeigt sich eine lange Kette falscher Entscheidungen der Vereinigten Staaten. Zunächst das fast deckungsgleiche Desaster 1975 im damaligen Saigon, als unter dramatischen Umständen Menschen per Hubschrauber ausgeflogen wurden. Dann, nicht minder beschämend, das 1979 erfolgte Fallenlassen des Schahs von Persien unter US-Präsident Jimmy Carter, das die weltpolitische Lage bis zum heutigen Tage im gesamten Nahen Osten entschieden veränderte und schließlich die fehlende Unterstützung der Amerikaner unter Präsident Barack Obama für den langjährigen US-Partner und Israel-freundlich eingestellten ägyptischen Ex-Präsidenten Husni Mubarak im Umfeld der ägyptischen Revolution 2011.
Das afghanische Desaster, das blamable Agieren der Bundesregierung unter der Kanzlerin Merkel – dies wird seine Auswirkungen auch auf die in wenigen Wochen stattfindenden Bundestagswahlen haben. Die jüngste deutsche Afghanistan-Politik brachte das berühmte „Faß zum Überlaufen“.