Dies allein wäre so spektakulär nun auch wieder nicht; immerhin wurde am 12. Mai 2011 der Grünen-Politiker Winfried Kretschmann durch die Koalitionsparteien Grüne und SPD im Stuttgarter Landtag sogar zum Ministerpräsidenten gewählt. Die nach wie vor mit deutlichem Abstand größte Partei im Landtag, die CDU, blieb letztendlich außen vor – wegen Fukushima, wegen Stuttgart 21, wegen Stefan Mappus. Nun also mit Fritz Kuhn der zweite Husarenstreich der Grünen. Und der ist in gewisser Weise noch spektakulärer, weil Fritz Kuhn in der Stichwahl mit 52,9% deutlich vor dem Christdemokraten Sebastian Turner (45,3%) liegt. Er hat es klar allein geschafft. Kretschmann bzw. seine Grünen hingegen erhielten nur etwas mehr als 24% bei der Landtagswahl 2011. Er brauchte daher im Landtag die fast gleichstarke SPD für seine Wahl zum Amt des Ministerpräsidenten. Wird nun das traditionell schwarze Baden-Württemberg nach der OB-Wahl in Stuttgart endgültig die Farben wechseln? War die Stuttgarter OB-Wahl ein Signal?
Dies muss man immer noch abwarten. Zwar macht Winfried Kretschmann einen durchaus guten Job als Ministerpräsident und lässt seinen Koalitionspartner SPD fast zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Er ist in Baden-Württemberg sogar in bürgerlichen Kreisen erstaunlich populär, eigentlich ein schwarzer Grüner! Und auch der jetzt gewählte Fritz Kuhn, ein sehr honoriger Mann, wird wohl in Stuttgart als OB keine Dummheiten machen. Kuhn ist ein „konservativer“ Grüner. Aber nach 1 ½ Jahren seit der letzten Landtagswahl ist es, trotz der für die Grünen erfolgreichen Stuttgarter OB-Wahl, immer noch zu früh für eine endgültige politische Bewertung der Verhältnisse im „Ländle“. Vor allem auch deshalb, weil gewisse Nachwehen in Stuttgart zu dem nach wie vor in der Landeshauptstadt heißen Thema „Stuttgart 21“ zu registrieren waren und sind. Kretschmann hingegen hatte als großen Wahlhelfer den atomaren GAU in Fukushima, der dann auch prompt die Energiewende bei Angela Merkel einläutete, während Stefan Mappus zur Kernenergie eine Wackelhaltung, einmal so und einmal so, einnahm.
Am 2. Dezember 2012 wählt nun Baden-Württembergs drittgrößte Stadt, Karlsruhe, ebenfalls einen neuen OB. Man wird sehen, wer dann Nachfolger des populären Nochamtsinhabers Heinz Fenrich (CDU) wird. Es wird aber im Dezember 2012 mit Sicherheit in der deutschen Hauptstadt des Rechts kein Grüner werden. Stuttgart also die große Ausnahme? Wie gesagt – man muss abwarten.
Immerhin ist aber Stuttgart mit ca. 600.000 Einwohnern nicht irgendwer. Insofern ist es schon eine Nachricht, wenn dort jetzt Fritz Kuhn als Grüner zum Oberbürgermeister der baden-württembergischen Landeshauptstadt gewählt wurde. Stuttgart gehört zusammen mit seiner umliegenden Metropolregion, insbesondere mit dem eigentlich zusammengewachsenen und ebenfalls sehr starken Esslingen, zu den stärksten Wirtschaftsregionen Europas. Europas wohlgemerkt, in Deutschland ohnehin. Die Metropolregion Stuttgart spielt wirtschaftlich in einer Klasse mit den Zentren London, Paris, Rotterdam und Wien. Stuttgart ist einer der mächtigsten Wirtschaftsstandorte überhaupt. Dahinter stehen so bekannte Unternehmen wie Daimler, Bosch, Porsche, EnBW, Mahle, Behr und unzählige erfolgreiche mittelständische Unternehmen. Allein im verarbeitenden Gewerbe werden in Stuttgart über 62.000 Menschen beschäftigt. In den Mercedes-Benz-Werken von Daimler und bei Bosch arbeiten in Stuttgart über 50.000 Mitarbeiter(innen). Die Metropolregion Stuttgart ist der exportstärkste deutsche Wirtschaftsraum. Rechnet man zu Stuttgart noch die direkt angrenzenden Landkreise Esslingen, Böblingen und Ludwigsburg hinzu, werden in diesem engeren Umkreis der Stuttgarter Region (also nicht die gesamte Metropolregion Stuttgart) 243.000 Menschen allein im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt. Dies unterstreicht auch den Stellenwert des mittleren Neckarraumes mit dem Zentrum Stuttgart für die gesamte Bundesrepublik Deutschland.
Aber Stuttgart ist keineswegs nur ein Industriezentrum. Die von Stuttgart aus geführte Gruppe Wüstenrot & Württembergische gehört mit zahlreichen Unternehmen in den Bereichen Bausparen, Versichern, Finanzieren zu den größten Finanzdienstleistungskonzernen Deutschlands. Auch die mit einer Bilanzsumme von ca. 370 Mrd. Euro größte deutsche Landesbank, die LBBW-Gruppe, blickt wieder guten Zeiten entgegen. Stuttgart ist ein herausragendes Kultur- , Sport- und Freizeitzentrum, eine Großstadt zwischen Wald und Reben. Stuttgart, die Stadt mit der bemerkenswerten Topographie, in der sogar die berühmte „Zacke“ (eine Zahnradbahn, die einen innerstädtischen Anstieg von 17,8% zwischen Stuttgarts Marienplatz und dem Stadtteil Degerloch überwindet) als einzige großstädtische Bergbahn täglich die Menschen zu ihrem Arbeitsplatz bringt, hat ein gehobenes Bürgertum. Wenn also in einer derartig wohlhabenden Stadt die Grünen den künftigen Oberbürgermeister stellen, dann ist dies schon erstaunlich. Seit 1945 gab es in Stuttgart bis heute nur drei Oberbürgermeister: Dr. Arnulf Klett, parteilos, von 1945 bis 1974, dann Manfred Rommel von der CDU bis 1996 und schließlich bis heute Dr. Wolfgang Schuster, ebenfalls CDU. Niemand wurde als OB in Stuttgart abgewählt. Auch dies ist typisch für Stuttgart: Man hält am Bewährten fest. Kuhn passt zu Stuttgart. Er ist im „Bauland“ (Teil Baden-Württembergs zwischen Buchen und Bad-Mergentheim) geboren, verbrachte seine Jugend in Memmingen, studierte u.a. an der traditionsreichen und renommierten Universität Tübingen (ca. 40 Kilometer von Stuttgart entfernt) und war lange auch Mitglied im Landtag des Landes Baden-Württemberg. Wenn Kuhn in Stuttgart keine Fehler macht, könnte er zusammen mit Kretschmann für die Grünen Zeichen und Akzente setzen, die auch bundespolitische Auswirkungen haben. Schauen wir mal!